florian berger

Das Schisma - Eine ludologische Differenzierung verschiedener Klassen von Rollenspielen

"Et ideo proprie schismatici dicuntur qui propria sponte et intentione se ab unitate Ecclesiae separant." Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Quaestio 39

Vorbemerkung

Der Text hat inzwischen einige Resonanz gefunden, ich habe mich auch an einigen Diskussionen beteiligt:

Einleitung: Es gibt nichts zu streiten

Rollenspieler befassen sich viel mit Texten und Sprache. Sie lesen Regelwerke und Abenteuer, schreiben Vorgeschichten von Spielfiguren, spielen natürlich und sprechen auch gerne über das Spiel.

Ein Teil tut dies mit Vorliebe unter Verwendung moderner Kommunikationsmittel: Blogs und Webforen. Die Webseite "rsp-blogs.de"1 listet aktuell 90 Blogs auf, die sich mit Stift-und-Papier-Rollenspiel befassen. Im Forum "Tanelorn"2 haben 1.852 Mitglieder bislang 594.012 Beiträge verfasst.

Ein beliebtes Diskussionsthema ist dabei die Kollision von Erzählen und Spielen. Sie drückt sich in unterschiedlichen Fragestellungen aus: Darf der Spielleiter eine Geschichte erzählen wollen? Was sind Kriterien für ein gutes Spiel? Dürfen Würfelergebnisse ignoriert, verändert, darf ein Wurf wiederholt werden? Was sind gute Abenteuer, und wie schreibt man sie, wie bereitet man sie vor?

Wenn sich nicht zufällig Spieler des selben Geistes eines solchen Disputes widmen, prallen meist verschiedene Denkschulen aufeinander, und die Auseinandersetzung wird mit einer Verbissenheit geführt, die den Mitleser sich wundern lässt, ob es tatsächlich im Grunde um ein Spiel geht.

Das Ziel dieses Artikels ist es aufzuzeigen, dass in diesen Diskussionen mit Problemen hantiert wird, die keine sind, wenn man die damit verbundenen Phänomene richtig erkennt und benennt. Wir stellen die These auf, dass es zwei grundverschiedene Klassen von Rollenspielen gibt: taktisches Rollenspiel und Erzählrollenspiel. Nach einigen Begriffsbestimmungen ziehen wir zwei ludologische Ansätze heran, um den Nachweis der These zu führen.

Grenzziehung: Die Klassifizierung

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, eine allgemeine Taxonomie des Spieles aufzustellen. Wir beschränken uns daher auf einige Arbeitsbegriffe, in dem vollen Bewusstsein, dass diese im Rahmen späterer Betrachtungen gegebenenfalls revidiert werden müssen.

Wir nehmen zuerst an, dass es Klassen von Spielen gibt. Uns obliegt es dann, die Klassengrenzen zu bestimmen und anhand derer die eigentliche Klassifizierung vorzunehmen.

Die Grenzen legen wir wie folgt fest:

  • Spiele gehören zur selben Klasse, wenn sie in allen Merkmalen übereinstimmen.
  • Spiele gehören zu unterschiedlichen Klassen, wenn sie sich in mindestens einem Merkmal fundamental unterscheiden.

Es ist nun festzulegen, was ein Merkmal ist und wann ein Unterschied fundamental ist. Dazu werden wir zwei ludologische Ansätze verwenden. Anhand derer werden wir Spielmerkmale feststellen, nach Unterschieden suchen und diese bewerten.

Zum Verständnis seien zwei Beispiele gegeben, auch wenn wir die verwendete Methodik nach Järvinen hier noch nicht behandelt haben:

Fußball und Basketball sind beides Ballspiele. Gehören sie unterschiedlichen Klassen an? Die Komponente "Ball" etwa ist bei beiden gleich. Sie unterscheiden sich aber in den Regeln und den Spielmechaniken und gehören damit in zwei verschiedene Klassen.

Draw Poker und Stud Poker sind beides Pokerspiele. Gehören sie unterschiedlichen Klassen an? Bei vereinfachter Betrachtung ist der einzige Unterschied, dass im Stud Poker einige Karten offen sichtbar vergeben werden. Dies bewerten wir als sekundären Unterschied. Alle anderen Spielelemente sind gleich. Es handelt sich damit um Varianten des Pokerspiels und nicht verschiedene Klassen.

Um das Ziel dieses Artikels zu erreichen, müssen wir also zeigen, dass sich die beiden behandelten Spiele in ihren Merkmalen fundamental unterscheiden.

Es soll hier noch vorausgeschickt werden, dass die beiden von uns ausgemachten Klassen keinesfalls die einzigen sein müssen. Hier geht es nicht um Ausschließlichkeit, sondern Begriffsbestimmungen und Grenzziehungen im Bezug auf taktisches und Erzählrollenspiel. Wir halten es für möglich, dass weitere Klassen von Rollenspiel gefunden werden können; deren Erkundung ist jedoch nicht Gegenstand dieses Artikels.

Die Klassen: Taktisches Spiel vs. Erzählspiel

Das Grundproblem der Differenzierung, die in diesem Artikel erfolgen wird, ist, dass taktisches Spiel und Erzählspiel formal sehr ähnlich ablaufen können. Dies wird weiter unten genauer beleuchtet. Hier wollen wir zunächst eine grobe Charakterisierung vornehmen.

Zunächst ist als Gemeinsamkeit festzuhalten, dass es sich bei beiden Spielen um Rollenspiele handelt. Für uns soll das im Moment heißen, dass zur Durchführung durch jeden Spieler eine Rolle anzunehmen ist; die Spielhandlung beinhaltet das Führen und Steuern dieser Rolle durch ein vorgestelltes Geschehen. Dabei wird die Vorstellung zum eigentlichen Spielfeld, und die Mitspieler bedienen sich vorrangig verbaler Kommunikation, um Spielzüge durchzuführen. Skizzen oder Spielbretter und -steine dienen als Abbild des Geschehens.

Unter taktischem Rollenspiel verstehen wir in diesem Artikel die Klasse Spiel, welche deutsche Blogger mit Abenteuer-Rollenspiel (ARS) betitelt haben. Im verlinkten Artikel heißt es dazu:

Ich definiere Abenteuerrollenspiel (im folgenden kurz ARS) als einen Spielstil, bei dem das Lösen einer Aufgabe mittels Taktik und Spielerleistung im Vordergrund steht. [...]

Zunächst einmal ist es wichtig sich vor Augen zu halten, dass ARS meistens auf Kooperation zwischen den Spielern und Opposition zwischen Spielleiter und Spielern setzt. [...]

Man spielt im Team, man spielt für das Team und man versucht für das Team Erfolge zu erzielen - wie zum Beispiel in einer guten Fußballmannschaft. Wie in einer guten Fußballmannschaft gibt es aber auch Wettbewerb unter den Spielern des gleichen Teams, indem jeder versucht zu zeigen dass er ein wertvoller Mitspieler ist der nützlich für den Gesamterfolg des Teams ist. [...]

Für den Rollenspielkontext ist es wichtig zu begreifen dass dieser Wettbewerb zwischen den Spielteilnehmern und nicht zwischen den Charakteren abläuft, also auf der Metaebene. [...]

Zudem ist es ausdrücklich Aufgabe des Spielleiters den Spielern Opposition zu liefern, indem er ihnen Hindernisse und Herausforderungen in den Weg wirft.3

Das Führen der Figur wird in diesem Fall als Herausforderung und Wettbewerb verstanden. Obwohl die Beteiligten die Spielzüge verbal kommunizieren oder aushandeln und sich bewusst sind, dass sie auf diese Weise Fiktion schaffen, sind, wie leicht zu sehen ist, klassische narrative Elemente kein Teil der Spielmechanik.

Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Erzählspiel. Als Beispiel ziehen wir hier das Regelwerk von "Vampire: The Masquerade" heran.4

With the rules in this book, you and your friends can take the roles of vampires and tell stories about the characters' triumphs, failures, dark deeds and glimmerings of goodness.

In a storytelling game, players create characters using the rules in this book, then take those characters through dramas and adventures, called (appropriately enough) stories. Stories are told through a combination of the wishes of the players and the directives of the Storyteller (see below). [...]

Whenever rules and story conflict, the story wins. Use the rules only as much - or preferably as little - as you need to tell thrilling stories of terror, action and romance.

Es ist augenfällig, wie sehr die Begriffe story und storytelling bereits diesen kurzen Ausschnitt dominieren. Die Qualität der geschaffenen Fiktion als Erzählung ist hier das Bewertungskriterium eines "richtigen" Spieles. Der Text geht soweit, die in der Folge geschilderten Regeln dem Primat der "spannenden Erzählung" unterzuordnen.

An diesem Punkt des nun geschaffenen Überblickes erliegt der Betrachter leicht der Versuchung, taktisches und Erzählrollenspiel als "Varianten" des selben Grundspieles aufzufassen. Je nach "Vorliebe" könne man mal die eine, mal die andere "Spielart" (sic!) betonen, oder die "Stile" ließen sich im Spiel gar anteilig mischen. Der Eindruck ist verzeihlich; zu ähnlich erscheinen oberflächlicher gesehen Spielsituation und Mechaniken. Doch wie eingangs angemerkt ist dies ein Irrtum, und er wiegt um so schwerer, als dass anscheinend nicht nur die Mehrheit der Spieler, sondern auch ein erheblicher Anteil der Spielautoren ihm erliegt.

Im Folgenden wird dieser Artikel einen Keil in diese Auffassung treiben, trennen, was getrennt gehört, und zeigen, was taktisches Rollenspiel und Erzählspiel wirklich sind: zwei verschiedene Spiele.

Die Herkunft: Brettspiel und Drama

Die Vorläufer des taktischen Rollenspiels sind CoSim und Miniaturen-Wargames.5 "CoSim" bezeichnet Conflict Simulation Games, treffend erläutert in dieser Quelle:

The late 70's and the 80's of the last century are remembered as being the golden age of "cosims", conflict simulations that typically are played with dozens or hundreds of thick cardboard counters on hex-fielded maps (sometimes the size of one square-meter or even more), following complex rules that often took dozens of small-printed pages and that used up to one or two dozen tables to determine random events and combat results by using a dice and a complex system of modifiers. These games had their heydays before the market for home computers became so strong and processing technology so powerful that they were able to take over the complex, time-consuming manual management of the complex game mechanisms which then were calculated in the background and no longer were needed to be handled by the player.6

In den angesprochenen Miniature Wargames stellen die Kontrahenten den Konflikt sehr plastisch durch Miniatur-Spielfiguren (hier im Sinne von "Spielsteinen") nach, wobei auch das Spielbrett eine maßstabsgetreu nachgebaute Landschaft sein kann.

Tatsächlich lässt sich eine Linie von dieser Art Spielen hin zum Stift-und-Papier-Rollenspiel der Gegenwart ziehen.7 Wie wir teils schon zeigen konnten und unten noch detailliert sehen werden, leben die wesentlichen CoSim-Züge im taktischen Rollenspiel fort: Taktik als grundsätzliche Spielphilosophie, Herausforderung, Wettbewerb und ein deutliches Konzept des "Gewinnens".

Es wäre für das Ziel dieses Artikels förderlich, wenn wir nun zeigen könnten, dass Erzählrollenspiel sich aus einer gänzlich anderen Wurzel entwickelt hat und nur zufällig oder selektiv Formalien aus dem taktischen Rollenspiel übernommen hat. Dies ist nicht der Fall; die Herausforderung für die weitere Abhandlung besteht also nicht zuletzt darin, zu zeigen, dass zwei aus gleicher Quelle entsprungene Spiele trotzdem von unterschiedlicher Klasse sind.

Kim etwa stellt das Auftauchen des Erzählrollenspiels so dar:8

In the late eighties, as the rules-heavy and rules-light trends competed, there were two key transitional systems: West End Games' Star Wars (1987) and FASA's Shadowrun (1989). [...]

Perhaps more importantly, these games began to take movies - and in particular action movies - as a very strict model. Published adventures began to appear which were organized into a sequence of "scenes", often divided into "acts". Each scene had a location, often with boxed text to be read. This was highly influential even among older games. For example, many 2nd edition AD&D adventures had a similar structure. [...]

The mechanics varied, but the emphasis was on finding a fast-resolving but still exciting mechanic to handle the cinematic combats. The style of play emphasized speeding through any sort of slow-moving parts to get on with the next scene.

Auf diese Strömung der Fast Cinematic Action folgt chronologisch das zuvor vorgestellte Dark Storytelling der 1990er Jahre, für das die Spiele des Verlages "White Wolf" exemplarisch sind. Während "Vampire" nun ganz eindeutig als Erzählrollenspiel zu klassifizieren ist, bereiten Übergangsspiele wie das erwähnte "Shadowrun" zunächst Schwierigkeiten. Wir werden uns dieser Frage erneut zuwenden, wenn wir in den folgenden Abschnitten die Methodik der Analyse vorgestellt und angewandt haben. Für die Beschreibung der Herkunft ist es momentan nur wichtig zu zeigen, dass bei der Fast Cinematic Action unverkennbar dramatische Elemente einzug ins Spiel halten: die Bedeutung filmähnlicher Abläufe (mit dem Film als unzweifelbar dramatisches Medium) und vor allem die formale Aufteilung in Szenen.

Systeme, die sich ausdrücklich als Erzählrollenspiel verstehen, benennen zumeist auch weitere Vorbilder, hier wieder das "Vampire"-Regelwerk:

Each player takes the role of a character - in this case, a vampire - and engages in a form of improvisational theatre, saying what the vampire would say and describing what the vampire would do.

Deutlicher als mit einem Bezug auf Theater, hier sogar Improvisationstheater, kann eine Herleitung vom Drama kaum dargestellt werden.

Zusammenfassend konnten wir zeigen, dass sich taktisches Rollenspiel von CoSim und Wargames herleitet, während Erzählrollenspiel als mit dramatischen Elementen angereicherte Variante des taktischen Rollenspieles begann, wobei schließlich die taktischen Grundelemente zugunsten der Dramatik an Bedeutung verloren und in den Hintergrund traten. Es ist unsere Überzeugung, dass spätestens an dieser Stelle eine neue Klasse von Spiel geschaffen wurde. Dies ist nun ludologisch zu untermauern.

Für die Analyse wollen wir nacheinander zwei Methoden verwenden: 1) eine abstrakte Analyse der Spielmerkmale nach Huizinga 2) die rapid analysis methods (RAM) nach Järvinen.

Analyse 1: Merkmale nach Huizinga

Huizinga stellt folgende allgemeine Kennzeichen des Spieles fest9:

  1. freie, das heißt nicht befohlene Handlung
  2. außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend
  3. kein materielles Interesse, kein unmittelbarer Nutzen
  4. Zeit und Raum sind eigens bestimmt und abgegrenzt
  5. gemeinschaftsstiftend
  6. Spannungselement: etwas mit ungewissem Ausgang muss "glücken"
  7. ordnungsgemäßer Ablauf nach Regeln
  8. Kampf um etwas und/oder Darstellung von etwas

Die Punkte 1. bis 5. sind für taktisches und Erzählrollenspiel gleichermaßen erfüllt und werden von uns nicht im Detail betrachtet. Wir wenden uns zunächst Punkt 6., dem Spannungselement, zu.

Spannung

Das Spannungselement des taktischen Rollenspieles bezieht sich auf das Gelingen der vom Spieler geplanten taktischen Operationen der gespielten Figur. Der Spielleiter ist Opponent dieses Bestrebens, damit der Verursacher der spannungserzeugenden Ungewissheit. Zusätzlich findet wie gezeigt zwischen den Spielern ein Wettstreit um dieses "Gelingen" statt. Huizinga bezeichnet diese Klasse Spiel mit Bezug auf einen griechischen Begriff als agonistisch, also "Spiel als Wettkampf".

In einem Erzählrollenspiel ist die Spannung ebenso zentral, aber gänzlich anderer Natur. Zur Erklärung müssen wir das Spannungselement in zwei Varianten des Erzählspieles betrachten, nämlich der mit linearer und der mit nichtlinearer Handlung.10

Ein Erzählspiel mit linearer Handlung liegt vor, wenn der narrative Ablauf des Geschehens von vorn herein feststeht und zur Laufzeit des Spieles nicht geändert werden soll. Die oben erwähnte Aufteilung eines Abenteuers in Szenen deutet dieses Konzept an. Dabei kann es sich auch um eine nur grobe Vorgabe des Ablaufes handeln, oder die Festlegung weniger, aber definitiv zu durchlaufender Szenen. Die Idee dahinter ist, dramatische Konstruktionen von Konflikten und Abläufen zu erzwingen und zu kontrollieren. In dieser Variante ist das Spannungselement stark abgeschwächt; es ist nichtsdestotrotz immer noch vorhanden, wenn die Spieler nicht wissen, was geschehen soll. Bei geschicktem dramatischem Aufbau bezieht das Spiel seine Spannung aus der Ungewissheit über den (a priori feststehenden) Verlauf der Ereignisse.

Bei nichtlinearer Handlung findet die Fiktion erst zur Laufzeit des Spieles zu ihrer finalen Form und Reihenfolge. Die Spannung ist hier höher und natürlicher als bei linearer Handlung, da die erspielte Handlung tatsächlich ungewiss ist. Der Spielleiter forciert im Gegensatz zum taktischen Rollenspiel jedoch einen dramatischen Aufbau.11 Die Frage "Wird es gelingen?" stellt sich hier in der Form "Wird die Geschichte so ausgehen, wie wir hoffen, und wird es eine aufregende Geschichte?" und nicht als "Wird diese taktische Operation gelingen? Werden wir gewinnen?"

Wie wir sehen, bezieht Erzählrollenspiel sein Spannungselement aus narrativen und nicht aus taktischen Elementen. Je nach dem, ob taktische Spielregeln im Regelwerk enthalten sind, finden sich aber gelegentlich Fragmente taktischer Spannung: "Gelingt diese Handlung?" Oder, noch grundsätzlicher: "Überlebt meine Figur diese Szene?"

Spielregeln

Huizinga stellt in Punkt 7 unserer Liste einen ordnungsgemäßen Ablauf nach im Voraus festgelegten Regeln als ein Merkmal eines Spieles fest.

Bei den im Internet aktiven Verfechtern des taktischen Rollenspiels genießen "die Regeln" einen, wir möchten sagen, quasireligiösen Status. Ihr vehementer Kampf gegen "Schummler"12 scheint im Zusammenhang unserer Betrachtungen zunächst unerheblich: definitionsgemäß hört jedes Spiel in dem Moment, in dem eine Regel gebrochen wird, schlechtweg auf zu existieren. Darüber bedarf es eigentlich keines Aufhebens. Da aber dieser Vorwurf ein Entzündungspunkt immer neuer Diskussionen ist, werden wir ihn unten beim Erzählspiel noch einmal aufgreifen.

Tatsächlich sind die operationalen Spielregeln Grundvoraussetzung des taktischen Rollenspiels; sie spannen einen Handlungsraum auf, der ein taktisches Vorgehen durch Planung, Auswahl aus Alternativen und Dosierung überhaupt ermöglicht. Die durch Regeln geschaffene Ordnung und Vorhersehbarkeit ist für diese Klasse Spiel entscheidend. Wie schon gezeigt befassen sich diese Regeln aber nur mit den Operationen im Handlungsraum und nicht mit den narrativen Elementen der zu schaffenden Fiktion.

Bei der Betrachtung der Regeln des Erzählrollenspiels müssen wir wieder eine Fallunterscheidung treffen: Erzählspiele mit und ohne taktische operationale Spielregeln.

Im Abschnitt "Die Herkunft" haben wir gesehen, wie sich Erzählrollenspiel aus taktischem Rollenspiel entwickelte. Fast zwangsläufig finden wir gerade in älteren Spielen Regeln, die wir, für sich genommen, als taktische operationale Regeln einordnen müssen. Die Klasse "Erzählrollenspiel" unterscheidet sich nun fundamental vom "taktischen Rollenspiel", indem sie, wie oben am "Vampire"-Regelwerk gezeigt, die taktischen operationalen Regeln relativiert und sie den Regeln dramatischer Fiktion unterordnet. Aus der Perspektive der taktischen Rollenspiele wird damit der Regelbruch zum Prinzip erhoben; dies ist jedoch eine unsinnige Feststellung, die so nur in Ignoranz der Tatsache getroffen werden kann, dass es zwei Klassen von Spielen gibt. Tatsächlich ist taktisches Spielen, so, wie wir es für die Klasse definiert haben, im Erzählrollenspiel nicht möglich, denn die Ordnung und Vohersehbarkeit durch feste taktische operationale Regeln ist hier nicht gegeben.

Im Erzählrollenspiel gelten schlicht andere Regeln. Aus dem Konzept der "narrativen Spannung" leitet sich ab, dass der narrative Fluss oder der dramatische Aufbau Inhalt, Merkmal und Ziel des Erzählspieles ist. Ungeplante Ereignisse, Versagen von Spielervorhaben etc. können diesen Fluss zerstören; sie sind insofern vermittels Spielregeln unter Kontrolle zu bringen. Das ist nur insofern problematisch, als dass dies bei frühen Erzählspielsystemen nicht explizit im Regelwerk verankert ist. Im Abschnitt "Die Herkunft" haben wir am Beispiel "Shadowrun" die schwierige Einordnung von Spielsystemen der Fast Cinematic Action-Ära angesprochen. Tatsächlich kann man einige Spielsysteme als Erzählspiel oder als taktisches Rollenspiel spielen; dies ist eine fundamentale Entscheidung, die festlegt, welche Regeln für das Spiel gelten. Das Erzählspiel fügt die notfalls implizite Zusatzregel ein, dass die taktischen operationalen Regeln nur so lange und weit gelten, wie sie nicht mit dem narrativen Spielziel kollidieren.

Jüngere Erzählspielsysteme wie "Polaris" oder "Western City" haben diese schmerzliche Unklarheit dankenswerterweise aufgelöst und explizite Spielregeln für das Erzählen eingeführt. Das Spiel wird hier als "Spiel mit Narration" verstanden, und dementsprechend behandeln die Regeln vorrangig, wer erzählt, was in einer Szene geschieht. Von Spitzfindigkeiten wie "taktischem Erzählen" einmal abgesehen bleibt das taktische Rollenspiel in diesen Spielsystemen völlig außen vor.13

Kampf und Darstellung

Mit dem 8. Punkt "Kampf und Darstellung" meint Huizinga zwei abstrakte Konzepte. "Kampf" steht für "Wettkampf"; "Darstellung" für "Vorführung" oder auch "Beschwörung" des Dargestellten. Diese Aspekte können nach Huizinga gleichzeitig und sogar vereinigt auftreten.

Anhand dieser Merkmale können wir wohl am leichtesten zwischen taktischem Rollenspiel und Erzählrollenspiel unterscheiden. Der "Kampf" ist im taktischen Rollenspiel ein wesentlicher Zug. In diesem agonistisches Spiel ringen die Spieler um das Bestehen der Herausforderungen, sind zugleich aber auch untereinander im Wettkampf um die beste Lösung. Diese Kämpfe können im taktischen Rollenspiel gewonnen werden, von Herausforderung zu Herausforderung. "Darstellung" findet zwar statt, ist dem "Kampf" aber deutlich nachgeordnet.

Anders das Erzählrollenspiel: es ist durch die dramatischen und narrativen Elemente vor allem eine "Darstellung" von Figuren und Abläufen, die Beschwörung eines Mythos, wie sie ähnlich im Theater, im Film oder - abstrakter - in Musik geschehen kann.14 Wir finden andererseits gelegentlich auch Kampf und Wettbewerb: den Kampf um Erzählkompetenz in jüngeren Erzählspielsystemen, oder der Wettbewerb um die gelungenste Figurendarstellung. Hinter dem Grundcharakter des Handlung darstellenden Spieles tritt dies jedoch zurück.

Fazit der ersten Analyse

Wir haben festgestellt, das Erzähl- und taktisches Rollenspiel die Kriterien der Freiheit der Handlung, der Absonderung vom gewöhnlichen Leben, des Fehlens eines unmittelbaren Nutzens, der Abgrenzung von Spielraum und Spielzeit sowie der Stiftung von Gemeinschaft erfüllen und darin einander gleichen.

Im Wesen und Charakter des Spannungselementes, der Spielregeln sowie der Ausprägung von Kampf und Darstellung unterscheiden sie sich fundamental. Diese erste Analyse stützt damit unsere These, dass es sich um zwei Klassen von Spielen handelt.

Analyse 2: RAM nach Järvinen

Järvinen hat 2007 vier "rapid analysis methods" für angewandte Ludologie vorgestellt:15

  1. Identifizierung und Analyse der Spielelemente
  2. Identifizierung der Spielmechaniken und der damit verbundenen Ziele
  3. Identifizierung von Spielerfähigkeiten
  4. Analyse der emotionalen Spielererfahrung

Die Methoden sind bemüht, ein Spiel sehr detailliert zu beschreiben. Wie wir gleich sehen werden, ist dies bei abstrakten Spielen wie dem taktischen und dem Erzählrollenspiel deutlich komplexer als bei vergleichsweise einfachen Spielen wie Schach. Wir wollen die Methoden daher in diesem Artikel recht grob anwenden und einen Rahmen abstecken, innerhalb dessen später gegebenenfalls eine detailliertere Analyse vorgenommen werden kann.

Spielelemente

Die Spielelemente nach Järvinen sind Komponenten, Umgebung, Regeln, Spielmechaniken, Thema, Information, Schnittstelle, Spieler und Kontext.

Wir beginnen mit den Spielelementen, die für taktisches und Erzählrollenspiel gleich sind.

Die Umgebung ist eine vorgestellte Welt, eine alternative Realität. Mit Zeichnungen, Karten und Figurenaufstellungen kann ein Abbild oder Modell dieser Welt geschaffen werden; das ändert aber nichts daran, dass nicht das Spielbrett oder die Karte die Umgebung ist, sondern die imaginierte Realität.16

Das Thema ist von der jeweiligen Hintergrundgeschichte des Spielsystemes abhängig. Die Regeln und Mechaniken können sich mit Schwertkampf oder Weltraum-Verfolgungsjagden befassen; dies ist bei beiden Klassen von Rollenspielen gleich.

Die Schnittstelle, die den Zugriff auf die Spielelemente ermöglicht, ist bei beiden Klassen verbale Kommunikation, typischerweise mit dem Spielleiter als normativem Verwalter des Spieles. Umgekehrt ist der Spielleiter im Regelfall der einzige, der verlässlich Auskunft über den Spielstand geben kann. Auch bei spielleiterlosen Spielen, die vorzugsweise beim Erzählrollenspiel anzutreffen sind, bleibt die Sprache die einzige Schnittstelle zum Spiel.

Spieler und Kontext sehen wir ebenfalls als gleich an, ohne sie näher zu beleuchten.

Die verbleibenden Spielelemente sind bei Erzähl- und taktischem Rollenspiel unterschiedlich.

Unter Komponenten versteht Järvinen das, was beim Spielen bewegt oder verändert wird. Im einfachsten Fall sind das physische Objekte wie Spielsteine oder virtuelle, grafisch repräsentierte wie Avatare in digitalen Spielen. Wenn schon die Umgebung nur in der Imagination existiert, ist es schwierig, darin die Komponenten zu identifizieren.

Als ersten Schritt könnte man die Spielerfiguren, die Nichtspielerfiguren und sonstige Objekte der vorgestellten Welt als Komponenten benennen und daraus folgern, das sich taktisches Rollenspiel und Erzählspiel auch darin gleichen. Dies greift jedoch zu kurz.

Was wird tatsächlich "bewegt" oder "verändert"? Das taktische Rollenspiel haben wir als Fortsetzung von CoSim und Wargames mit anderen Mitteln kennengelernt; hier können wir vergleichbare Komponenten identifizieren. Wesentlich sind die Spielerfiguren, die die Spieler dem Brettspiel vergleichbar in der vorgestellten Welt positionieren und gemäß den Möglichkeiten des Handlungsraumes agieren lassen. Der Spielleiter tut Gleiches mit von ihm kontrollieren Figuren und Objekten und hat außerdem Zugriff auf schwerer fassbare Komponenten wie Wetter, Landschaften etc.

Anders das Erzählspiel. Formal bewegen die Spieler auch hier ihre Figuren; tatsächlich geschieht dies jedoch zwecks eines mittelbaren Zugriffs auf den narrativen Ablauf. Die Komponenten sind im Erzählspiel folgerichtig auf einer ganz anderen Ebene zu suchen. Am deutlichsten ist dies wieder bei Systemen jüngeren Datums: hier wird über Inhalt und Ablauf von Szenen verhandelt, "bewegt" werden also Handlungen und narrative Elemente, "gespielt" wird mit dem dramatischen Ablauf. Das gilt auch für ältere Systeme, sofern sie als Erzählspiel gespielt werden. Vergleichbar der oben angedeuteten Beziehung zwischen Handlungs- und Metaraum liegen die Komponenten des Erzählspieles hier über den Komponenten des taktischen Rollenspieles.

Das nächste Spielelement, die Regeln, unterscheidet sich ebenfalls bei beiden Klassen. Wir verweisen hier auf die Betrachtungen, die wir oben bei der Analyse nach Huizinga angestellt haben und die hier gleichermaßen gelten.

Als Spielmechaniken definiert Järvinen Handlungen, die die Spieler vollziehen, um Spielziele zu erreichen. Da wir verschiedene Spielziele feststellen - hier ein taktisches Lösen von Herausforderungen, dort Erspielen eines spannenden und befriedigenden Ablaufes - ist es naheliegend, dass sich auch die Mechaniken entsprechend unterscheiden.

Aus unserer Sicht differenziert Järvinen hier zu wenig. "Moving, aiming, shooting, collecting" beispielsweise sind für ihn gültige Mechaniken. Wir finden, dass dies insbesondere mehrschichtigen und symbolischen Handlungen nicht gerecht wird. Bei einem digitalen Spiel ist etwa aus unserer Sicht "Bewegen und Klicken mit der Maus" eine Spielmechanik, die dazu führt, dass auf der grafisch-symbolischen Ebene eine Aktion durchgeführt wird, die wir als "sammeln" oder "schießen" verstehen. Konsequent schreibt Järvinen "performing characterizes role-playing games"; nun ist "to perform" aber eine komplexe Handlung, die zudem die Tätigkeit des Spielers keineswegs erschöpfend beschreibt. Wir wollen es hier etwas genauer versuchen.

Aus unserer Sicht hängen die Mechaniken eng mit den Komponenten zusammen: vermittels der Mechanik bewegen Spieler die Komponenten. Wenn wir im taktischen Rollenspiel die Figuren und Objekte der vorgestellten Welt als Komponenten identifiziert haben, dann besteht die Mechanik dieser Klasse Spiel darin, die Figur sich bewegen, sprechen, kämpfen zu lassen, also das, was wir Handlungsraum genannt haben. Vollständig betrachtet ist dies eine mehrschichtige Handlung, die eigentliche Aktion bleibt das Beschreiben durch die Spieler, welches zu den Bewegungen in der vorgestellten Welt führt.

Wie gezeigt sind die Komponenten des Erzählspieles weit schwieriger zu fassen. Wir haben - absichtlich unscharf - Handlungen und narrative Elemente als Komponenten isoliert, auf die die Spieler entweder direkt, zum Beispiel durch Verhandeln von Inhalten, oder indirekt durch Figurenspiel zugreifen. Diesen Zugriff, so unbestimmt er im Detail auch sein mag, müssen wir folgerichtig als die Spielmechanik des Erzählrollenspieles begreifen. Der Eingriff in die Narration durch Figurenspiel oder direktes Aushandeln ist die Mechanik dieser Klasse Spiel.

Das letzte Spielelement nach Järvinen ist die Information. Damit ist all das gemeint, was die Spieler wissen müssen, alles, was das System "Spiel" speichert und als Spielstatus vorhält.

Zugegeben, hier sind sich taktisches und Erzählrollenspiel sehr ähnlich. Wir wollen hier trotzdem auf wichtige Unterschiede in diesen Informationen hinweisen. Für taktisches Rollenspiel ist vor allem eine detaillierte und zuverlässige Beschreibung der physischen Seite der vorgestellten Welt wichtig. Das sind Informationen, wo genau sich die Figuren befinden, welche Ausrüstung sie tragen, wie viele Lebens- oder Magiepunkte sie haben, wie weit die Figuren sehen können etc. Große Teile dieser Informationen können für Erzählspiel irrelevant sein; dort ist dann hingegen die narrative Information wichtig, also etwa Stimmung einer Figur, ihre Vorgeschichte, oder - noch losgelöster - wo genau im dramatischen Bogen sich die Handlung gerade befindet.

Der nächste Schritt nach Järvinens Methode ist festzustellen, wem die Spielelemente gehören. Hier bestehen pro Element drei Möglichkeiten: "von mir", "der anderen" oder "des Systems". "System" ist hier zu großen Teilen als Synonym des Spielleiters zu sehen.

Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, dass taktisches und Erzählrollenspiel zwei verschiedene Klassen von Spielen und nicht bloß Varianten des selben Spieles sind. Dazu wollen wir vor allem ludologisch fundiert trennende Merkmale dieser Spiele aufzeigen. So interessant die Besitzverhältnisse der Spielelemente sind, tragen sie doch zu dieser Erkenntnis nicht fundamental bei, so dass wir auf die notwendigerweise umfangreiche Aufführung der Zuordnung hier verzichten wollen. Wir verweisen lediglich auf die Unterschiede, die besonders bei "Komponenten von mir / der anderen / des Systems", "Spielmechaniken von mir / des Systems" und "Schnittstelle von mir / des Systems" zwischen taktischem und Erzählrollenspiel, aber auch zwischen älteren und jüngeren Erzählrollenspielen bestehen.

Spielmechaniken und Ziele

Die nächste Methode Järvinens dient dazu, die Spielmechaniken mit den Spielzielen in Verbindung zu setzen. Es geht also darum, den Handlungen ein "um" hinzuzufügen - handeln, um etwas zu erreichen. Wir werden diese Methode hier in vereinfachter Form auf jede der beiden Klassen anwenden.

Das globale Spielziel der taktischen Rollenspieles ist das Überleben und die Weiterentwicklung der Spielfigur.

Die primäre Kernmechanik ist dabei das Auswählen und Durchführen lassen von Handlungen aus dem Handlungsraum. Dabei kommen eine Reihe von Submechaniken zum Einsatz, bestimmt durch das jeweils verwendete Spielsystem und Regelwerk.

Mit dem glokalen Ziel der Kernmechanik meint Järvinen das Ziel, dass die Kernmechanik unmittelbar verfolgt - meist trägt es nur mittelbar zum Erreichen des globalen Zieles bei. Im taktischen Rollenspiel ist das glokale Ziel das optimale Bestehen der aktuell gestellten Herausforderung; die Figur soll überleben, Erfahrung, Fertigkeiten und Reichtum mehren und so das globale Ziel verfolgen.

Im Erzählspiel ist das globale Spielziel das gemeinsame Erschaffen einer dramatischen, befriedigenden Geschichte. Wir haben bereits festgestellt, dass wir bei dieser Klasse zu unscharfen Begriffsfassungen gezwungen sind; in Verbindung mit einem konkreten Spielsystem können wir das globale Spielziel schärfer definieren, etwa als "glaubwürdiger Lebenslauf", "kinoartige Action", "moralischer Niedergang" etc. Dies sind jedoch nur Varianten des obigen Zieles.

Der Eingriff in die Narration ist die primäre Kernmechanik, die sich im Aushandeln von Szenen am deutlichsten manifestiert. Figurenspiel erfüllt hier vorbildlich Järvinens Definition einer Submechanik, derer sich die Spieler bedienen müssen, um die Kernmechanik zu vollziehen.

Das glokale Ziel ist die Erschaffung eines befriedigenden dramatischen Fragmentes, etwa in Form einer Szene; dabei muss die Szene selbst narrativ zufriedenstellend sein, aber auch durch Form und Anlage das globale Ziel der befriedigenden Geschichte zu erreichen helfen.

Spielerfähigkeiten

Nach Järvinen sind im Folgenden kognitive, psychomotorische und physische Spielerfähigkeiten zu identifizieren, die die Spielmechaniken verlangen.

Rollenpiel mit Stift und Papier fordert in jedem Fall vor allem kognitive Fähigkeiten: Phantasie, Vorstellungskraft, abstraktes Denken, Rechnen.

Taktisches Rollenspiel fordert dazu analytisches und planvolles Denken, um eben nach taktischen Gesichtspunkten aus dem Handlungsraum der Figur zu wählen. Die selben Fähigkeiten werden von CoSims und Wargames verlangt.

Das Erzählrollenspiel hingegen sieht den Eingriff in die Narration als primäre Kernmechanik vor. Dazu ist zunächst ein dramaturgisches Grundverständnis notwendig, ein Denken in Handlungssträngen, Konflikten und dramatischen Bögen. Die Spieler (und der Spielleiter) müssen Spielstände dramaturgisch bewerten können und in der Lage sein, schnell und flexibel zu reagieren, um das glokale Ziel eines befriedigenden dramatischen Fragmentes zu erreichen. Nicht zuletzt ist für eine gelungene Darstellung ein schauspielerisches Grundtalent notwendig. Gleiche Fähigkeiten werden vom Improvisationstheater verlangt.

Järvinen betont, dass ein Spiel dem Spieler die Chance geben muss, diese Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Das ist bei beiden Klassen der Fall.

Emotionale Spielererfahrung

Als Basis der Analyse emotionaler Spielererfahrung schlägt Järvinen das Modell von Ortony, Clore und Collins (OCC model) vor, das Emotionen als wertige Reaktionen auf Agenten, Ereignisse und Objekte beschreibt. Als für das Spielen zentrale Emotion sieht er Spannung (suspense) an, die er als Mischung aus Hoffnung, Furcht und Ungewissheit definiert. Gegenstand der Analyse ist immer ein gegenwärtiger Spielzustand (game state).

Als Variable, welche die Intensität von Emotionen beeinflusst, benennt das OCC-Modell die proximity: damit wird hier ausgedrückt, wie nah sich ein Spieler - gemeint ist eine psychologische Distanz - am Erreichen oder am Verfehlen eines Zieles fühlt. Je höherwertig das Ziel, meint Järvinen, um so höher die emotionale Intensität.

Im genannten Artikel zeigt Järvinen tabellarisch eine emotionale Analyse eines einfachen digitalen Spieles. Es dürfte einsichtig sein, dass diese bei so komplexen wie vielfältigen Spielen wie taktischem und Erzählrollenspiel sehr viel aufwändiger und umfangreicher ausfällt. Wir wollen uns daher hier darauf beschränken festzustellen, dass wir das Konzept der proximity unserer Ansicht nach auch bei Erzähl- und taktischen Rollenspielen anwenden können. Da die Ziele bei diesen Klassen von Spielen wie oben gezeigt verschieden sind, wird die proximity durch unterschiedliche Quellen moduliert. Wir geben je ein Beispiel:

Im taktischen Rollenspiel können wir eine hohe emotionale Intensität erwarten, wenn ein Spieler sich nah am Verfehlen der glokalen Zieles "Überleben der Spielfigur" fühlt, die Figur nach den Regeln also kurz vor dem Ableben steht und nur durch geschicktes Taktieren und/oder Glück zu retten ist.

In einem laufenden Erzählrollenspiel ist mit einer hohen Intensität zu rechnen, wenn Spieler sich nah am Erreichen des glokalen Zieles "befriedigendes dramatisches Fragment" fühlen, etwa wenn sich die Schlussverhörszene eines Kriminalspieles so entwickelt, dass der Verbrecher dramatisch überführt werden kann.

Fazit der zweiten Analyse

Diese zweite Analyse, die auf moderner Methodik angewandter Ludologie beruht, weist im Ergebnis in die selbe Richtung wie die erste. Obwohl Erzähl- und taktisches Rollenspiel einige Spielelemente gemeinsam haben, finden wir fundamentale Unterschiede bei Komponenten, Mechaniken und Spielinformation. Die Ziele, die sich mit den Mechaniken verbinden, sind verschiedener Natur. Wir konnten auch zeigen, dass die Spiele jeweils andere Fähigkeiten von ihren Spielern verlangen, was wir mit der Herkunft der Spiele in Beziehung setzen konnten. Auch in der Modulation der proximity, der Quelle emotionaler Intensität, finden wir keine Übereinstimmung.

Wir kommen aufgrund der Analysen zu dem Ergebnis: taktisches und Erzählrollenspiel sind zwei grundverschiedene Klassen von Spielen.

Im folgenden Abschnitt wollen wir uns abschließend einigen Fragen widmen, die bei der Vermengung von "Erzählen" und "Spielen" auftreten.

Das Problem: Erzählen als Spiel

In Rollenspielen mit Stift und Papier, in Live-Rollenspielen, aber auch in digitalen Spielen treffen wir immer wieder dramatische und narrative Elemente an: Einleitungen und Charakterisierungen, Protagonisten und Antagonisten, Konflikte, Monologe, steigende und fallende Handlung, den Showdown. Dies hat bei der systematischen Beschreibung und Erforschung von Spielen immer wieder zu der Annahme geführt, dass Spiele als textuelles Medium verstanden wurden und mit den Werkzeugen der Textanalyse untersucht wurden. Dies führte zum Konflikt zwischen "Ludo-" und "Narratologen", der damit endete, dass schließlich keines der Fächer einen absoluten Hoheitsanspruch auf die Spielanalyse erheben konnte.

Das Problem ist, dass ein Spiel aus der Sicht eines Spielers immer als Geschichte (im weiteren Sinne) aufgefasst und spätestens nach Ende des Spieles als solche analysiert werden kann - unabhängig davon, ob das Spiel narrative Elemente planvoll, zufällig oder nur durch Interpretation als solche enthielt. Eine anschauliche Metapher entwickelt Koljonen in ihrer Larp-Analyse "The Dragon Was the Least of It":

Imagine a book club based on the premise that all participants read a handful of chapters from the same novel, dividing it up between them, so that most or all participants read the key moments, but the rest of the chapters are randomly assigned. The book club would then meet to discuss the book, reconstructing a sort of ghost-text in the process: an uncanny fiction of a novel that has never existed and will never be read. Imagine that even the partial texts are burnt before the meeting, so that it is not possible to go back and check against one's memory.

Then imagine members of the book-club reconvening a week later, a year later, to talk about the book again. How long would their personal impressions of the story remain vivid? At what point would the collective reading subsume the individual experiences? Would it be meaningful to ask them whether the book they read was any good? [...]

This is a challenge that faces the role-playing community, and especially larpmakers: we are writing novels which dissolve upon completion.17

Wir haben in diesem Artikel gezeigt, dass zwei Klassen von Rollenspielen existieren. Während das Erzählspiel explizit mit Geschichten spielt und sie selbstverständlich auch bewusst erzeugt, wehren sich eingefleischte Taktikrollenspieler gegen eine Auslegung ihres Spieles als dramatisches Konstrukt - wie eingangs geschildet eine Quelle end- und fruchtloser Diskussionen.

Nach unserer Auffassung ist ein vernünftiger Zugang zu diesem Problem das Konzept der storyfication von Aylett:

Storyfication is a term that defines the continuous activity of a narrative participant in building a mental picture and developing and testing expectations about the story's outcome and the character's present and future motivations, roles and emotions as the story unfolds in real-time.18

Unter Zuhilfenahme dieses Begriffes können wir feststellen, dass es zuerst einmal unerheblich ist, wie viel "Erzählung" a priori in einem Spiel enthalten ist. Über den konstruktiven Prozess der storyfication kann jedes Spielerlebnis als Geschichte erlebt und verarbeitet werden. Somit kommen wir abschließend zu folgenden Erkenntnissen:

  • Ein Rollenspiel wird als taktisches Rollenspiel oder als Erzählspiel gespielt. Dies sind zwei unterschiedliche Klassen von Spielen. Manche Spielsysteme lassen nur eine Klasse von Spiel zu, manche beide - gegebenenfalls mit hausgemachten Zusatzregeln.
  • Ein Spieler kann jedes Rollenspiel über den dabei ablaufenden konstruktiven Prozess der storyfication als Geschichte erleben. Das ermöglicht grundsätzlich eine dramaturgische Analyse des Spieles, erlaubt aber nicht automatisch Forderungen oder Bewertungen des Spieles aus dieser Perspektive.

Florian Berger, im Mai 2009


  1. http://rsp-blogs.de/

  2. http://tanelorn.net/

  3. http://skyrock.blogg.de/eintrag.php?id=2

  4. Davis, Graeme, Rein-Hagen, Mark and Wieck, Stewart: Vampire: The Masquerade. 1st Edition, White Wolf Publishing, 1995.

  5. Unlängst treffend festgestellt in http://tanelorn.net/index.php?topic=46725.msg897046

  6. Hoell, Marcel "Skybird": Tokyo Express. August 15, 2006. http://www.subsim.com/ssr/tokyo_express/review_tokyo_express.php

  7. Kim, John H.: A Brief History of Fashion in RPG Design, December 2006. http://www.darkshire.net/jhkim/rpg/theory/fashions.html

  8. ebenda

  9. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek, 1987.

  10. Diese Varianten sowie ihre Übergangsformen erläutere ich genauer in: Berger, Florian: Methodische Spielleitung. Selbstverlag: Leipzig, 2008. http://www.spielleiterbuch.de/

  11. Diese Variante des Erzählrollenspiels nennt der Autor Aufgeklärtes Dramatisches Rollenspiel (ADR). Dazu gibt es einen eigenen Artikel: http://florian-berger.de/texte/rollenspiel/adr-aufgeklaertes-dramatisches-rollenspiel

  12. Beispielhaft nachzulesen etwa im Blog Ghoultunnel: Würfeldreher-Gate, http://ghoultunnel.blogg.de/eintrag.php?id=70

  13. Ergänzend könnte man anmerken, dass Erzählspiel über den Handlungsraum des taktischen Rollenspiels einen narrativen Metaraum legt, in dem die Operationen im Handlungsraum eine dramaturgische Bewertung erfahren: ist diese Handlung oder ihr Ergebnis spannend, interessant, führt es entlang eines anzustrebenden Handlungskorridors oder weg von ihm? Dieser Raum ist für das Erzählspiel maßgeblich, und in ihm wird regelhaft gespielt.

  14. All dies nebenbei kulturelle Vorgänge, die gleichfalls "gespielt" werden.

  15. Järvinen, Aki: Introducing Applied Ludology: Hands-on Methods for Game Studies. In: Situated Play, Proceedings of the DiGRA 2007 Conference. http://www.digra.org/dl/db/07313.07490.pdf

  16. Es ist dem Autor ein inniges Anliegen bereits hier festzustellen, dass diese Vorstellung pro Spieler existiert. Etwas wie eine "gemeinsame vorgestellte Welt" (shared imagined space) ist ein irreführendes Konzept, mit dem aufgeräumt gehört. Der Autor plant, darauf in anderen Veröffentlichungen einzugehen.

  17. Koljonen, Johanna: The Dragon Was the Least of It: Dragonbane and Larp as Ephemera and Ruin. In: Montola, Markus and Stenros, Jaakko (Eds.): Playground Worlds. Creating and Evaluating Experiences of Role-Playing Games. Ropecon ry: Finland, 2008.

  18. Louchart, Sandy and Aylett, Ruth: Managing a non-linear scenario - A narrative evolution. Proceedings of the ICVS 2005. http://www.macs.hw.ac.uk/~sandy/Publications/Louchart-Aylett-ICVS05.pdf