florian berger

ADR - Aufgeklärtes Dramatisches Rollenspiel

Das Motiv

Verbegrifflichungen und zugehörige Pamphlete genießen in der Rollenspiel-Blogger- und Forenszene eine spürbare Beliebtheit. Dass ich jüngst mehrfach den von mir bevorzugten Spielstil vorstellen oder, je nach Gegenüber, rechtfertigen sollte, gibt mir Grund, diese Idee hier in Worte zu gießen.

Verwandte und Bekannte

Dankenswerterweise stehe ich mit meinen Vorlieben nicht allein auf weiter Flur, und textlich produktivere Menschen haben ähnliche Ideen bereits auf den Datenhalden des WWW abgelegt.

Im Forum Tanelorn haben Fredi der Elch und 1of3 unlängst Einträge hinterlassen, die sich ganz gut mit dem, was ich hier vorstellen will, decken.1 Auch der Blogger Drudenfusz hat einmal versucht, seinen Spielstil HERZ zu definieren. Da gibt es Parallelen, aber mir ist letzterer Text einerseits zu unpräzise, andererseits zu sehr auf wenig fassbare Begriffe fixiert.

Natürlich haben auch die Anhänger des ARS im Zuge ihrer halb satirisch gemeinten Zaunziehung zwischen reinen und deformierten Spielstilen sich mit dem, was sie "Erzählrollenspiel" nennen, auseinandergesetzt. Ich finde die dabei entstandenen Konstrukte problematisch. Sowieso sollte die Definitionshoheit denjenigen vorbehalten sein, die sich ak-, posi- und konstruktiv mit "Erzählrollenspiel" auseinandersetzen.

Es gibt sicherlich noch mehr Verwandtes zum hier vorzustellenden Ansatz; aufgrund der Struktur von Foren und Blogs, der aktuell wohl bevorzugten Veröffentlichungsform, ist das allerdings schwer aufzustöbern. Wer was kennt, melde sich, ich ergänze dann hier.

Die Anatomie

Ich spiele am liebsten Aufgeklärtes Dramatisches Rollenspiel (ADR).

Das ist zuerst ein Spiel. Stark verkürzt nach Huizinga ( Volltext, Taschenbuch ) also eine Aktivität, die keinem äußeren Zweck dient und in einem abgesonderten Kreis nach festen willkürlichen Regeln stattfindet.

Genauer ein Rollenspiel, was heißt: zur Durchführung ist eine Rolle anzunehmen. Die Spielhandlung ist das Führen und Steuern dieser Rolle durch ein vorgestelltes Geschehen.2

Dieses Rollenspiel ist dramatisch. Es wird durch diese Eigenschaft geschieden von anderen formal ähnlichen Rollenspielen. "Dramatisch" bezieht sich auf Struktur des Spieles und den Aufbau des Spielverlaufes:

Strukturell wird das Spiel getragen durch detaillierte, starke und einflussreiche Figuren. Innerhalb der oder zwischen den Figuren existieren Konflikte, der typischste der Protagonist-Antagonist-Konflikt.

Der Spielleiter forciert einen dramatischen Aufbau des Spielverlaufes. Das bedeutet: Exposition, Entwicklung, Höhepunkt und Auflösung der Konflikte. Dazu ist eine zeitliche Segmentierung erforderlich, auf die sich der genannte Bogen anwenden lässt. Makro- und mikrodramatische Segmentierungen sind möglich: mehrere Spielsitzungen, die einzelne Sitzung oder ein Zeitabschnitt einer Sitzung sind gültige Segmente.

Die dramatischen Elemente werden aus nur einem Grund eingeführt: weil die Spieler es so wollen. Sie entscheiden sich frei und bewusst, ihre Zeit mit einem dramatisch geprägten Spielerlebnis zu verbringen. Die oben genannten Eigenschaften werden damit zur Forderung an den Spielleiter, die Spielsitzung entsprechend zu gestalten.

Dieses dramatische Rollenspiel ist dann aufgeklärt zu nennen, wenn alle Beteiligten wissen, dass der Spielleiter mit den ihm zur Verfügung stehenden Techniken dem Spielablauf einen dramatischen Aufbau aufprägt, und diesem zustimmen. Es ist Konsens, dass die Vorgänge in der vorgestellten Handlung nicht auf einer möglichst neutralen Simulation beruhen. Die Spieler können somit nicht auf einem getreu simulierten Weltgeschehen zu bestehen; sie haben allerdings Anspruch auf einen befriedigenden dramatischen Spielverlauf.

Abgrenzungen

ADR ist kein bloßes Nachspielen oder Ablaufen vorbereiteter linearer Fiktion. Es ist dem Wesen nach ein Spiel, was sich insbesondere in seinem inhaltlich nicht im Voraus festgelegten und auch nicht vorhersehbaren Verlauf zeigt.3

ADR ist auch kein direktes kollaboratives Erzählen im Sinne von Aushandeln von Szenen und Geschehnissen. Die Handlung fließt kontinuierlich und wird vom Spielleiter als Schiedsrichter und eingreifendem Impulsgeber, von den Spielern vermittels ihrer Rolle geformt.

Die Gegenseite

Im Zuge der Profilschärfung und Abgrenzung des ARS haben dessen Verfechter sich an Definitionen eines auf Erzähltechniken fokussierten Spielstiles versucht, die sie als xErz beziehungsweise nErz bezeichnen. Darin werden an akzeptables Erzählspiel strenge Maßstäbe angelegt, die sich ARS-typisch um das Befolgen von Regeln und Wurfergebnissen und ganz allgemein gegen das "Schummeln" richten.

Um mal metaphorisch zu sprechen, machen diese Texte den Eindruck, als ob ein Konzil von Metzgern eruiert, unter welchen Umständen vegetarische Nahrung annehmbar sei, und zu dem Ergebnis kommen: "Solange es aussieht wie eine Wurst und schmeckt wie eine Wurst, ist es in Ordnung." :-)

ADR ist ein mit ARS verwandtes, aber eben in vielen Punkten doch ganz anderes Spiel. Für ADR gelten andere Annahmen und Kriterien. Erfreulicherweise werden damit eine ganze Reihe von Streitpunkten überflüssig. Hier ein paar Bemerkungen zu zwei oft angesprochenen Punkten: Regeln und Schummeln.

Da ADR-Spieler wenig oder gar nicht mit Regeln und Werten taktieren, gelten an das Regelwerk andere Anforderungen. So muss es einerseits so einfach sein, dass das Abarbeiten der Regelmechaniken (Würfe, Nachschlagen in Tabellen, Berechnungen) den Spielfluss minimal behindert. Andererseits muss es die Figuren hinreichend detailliert abbilden, so dass Spieler die wichtigen Charakterzüge und körperlichen Eigenschaften auch in der Spielmechanik repräsentiert sehen.

Das "Schummeln" auf seiten des Spielleiters ist ein rotes Tuch für ARS-Verfechter, und das ist es zurecht. Spielregeln sind ein fundamentaler Teil, nicht nur von ARS, nicht nur von Rollenspielen, sondern von Spielen allgemein. Wer Regeln bricht, hört definitionsgemäß auf zu spielen. Er vollzieht ein Pseudospiel, das nur noch den Anschein mit dem regelhaften Spiel gemein hat.4

Ein Spielleiter, der auf den Spielverlauf zwecks Erzeugung dramatischer Bögen einwirkt, steht im ARS-Lager unter dem Verdacht des latenten Schummelns. Dort erscheint es nämlich unmöglich, einer "Story" zu folgen, ohne Würfelergebnisse zu ignorieren und Regeln zu brechen. Das hat aber auch damit zu tun, dass für ARS die ungeschriebe Regel der "getreuen Simulation" gilt, sprich: auch wer in Fakten und Abläufe der Spielwelt eingreift, schummelt dort.

ADR funktioniert einfach anders. Das gewählte Regelwerk ist zu befolgen. Würfelergebnisse sind diesen Regeln gemäß auszuwerten. Aber: Änderungen an der Spielwelt sind, so sie keine Widersprüche mit dem bisher Erspielten aufwerfen, erlaubt. Sie erfüllen nicht den Tatbestand des "Schummelns".

Daraus folgt eine ganz simple Konsequenz: nicht würfeln, wenn eigentlich erzählt werden soll. Damit entsteht gar nicht erst die Versuchung, etwas hinbiegen zu wollen.

ADR führt dafür eine andere Form des "Schummelns" ein, die im ARS nicht existiert: die Spieler um eine gute, das heißt spannende und befriedigende Story zu betrügen. Dem Spielleiter kommt hier unter anderem eine Funktion zu, die einem DJ in einer samstäglichen Clubnacht vergleichbar ist: die Stimmung der Menge zu erspüren, aufrecht zu erhalten und zu steigern. Nichts Schlimmeres gibt es, als zur besten Zeit einen unpassenden Track aufzulegen. Im Club kann man die Tanzfläche verlassen und sich an der Bar aufregen; im Rollenspiel muss man dagegen durch. So gesehen ist die Verantwortung hier noch ein Stück größer.

Zum Abschluss noch etwas Konsonanz: sowohl ARS als auch ADR verbieten das Betrügen der Spieler um Einfluss auf das Geschehen. Spieler sind auf beiden Seiten mündige, aufgeklärte, aktive Gestalter eines Spielerlebnisses.

Begriffliches

Indirekt wurde hier und dort nahegelegt, dass es sich bei meiner Vorliebe um dramaturgisches Erzählspiel handele. Das ist falsch, daher hier noch einmal die engültige Klärung:

"Dramatisch" heißt: das Drama kennzeichnend, zum Drama gehörig (siehe Duden).

"Dramaturgisch" heißt: die Dramaturgie betreffend (Duden). Und was ist Dramaturgie? Die "Kunst der Komposition von Dramen"5, die "Lehre von Wesen, Wirkung und Formgesetz des Dramas" (Brockhaus) oder auch die "Lehre von der äußeren Bauform und den Gesetzmäßigkeiten der inneren Struktur des Dramas, besonders im Hinblick auf die praktische Realisierung." (Duden)6

Also ganz klar: "dramatisches Rollenspiel", im Sinne von "vom Drama borgend, vom Drama inspiriert", und nicht: "dramaturgisches Rollenspiel", "von der Lehre vom Drama ableitend, von der Lehre der Struktur des Dramas herrührend".

Florian Berger, im April 2009


  1. Für den unbedarfte Leser: es ist in diesen Kreisen üblich, unter mehr oder weniger esoterischen Pseudonymen zu verkehren. Da musste ich mich auch erst dran gewöhnen. In anderen Internetgefilden wird einem Pseudonym nicht mal geantwortet... :-)

  2. Der Blogger Settembrini hat irgendwann einmal darauf hingewiesen, wie schwammig das deutsche Wort "Rollenspiel" ist und dadurch Interpretationen hinsichtlich Märchestunde und Improvisationstheater Vorschub leistet. Im englischen Begriff "Role-playing Game" wird der Charakter deutlicher: es ist ein Spiel (Game), zu dessen Vollzug eine Rolle gespielt (Role-playing) werden muss. Es ist eben nicht einfach nur "role-playing".

  3. Der formale Verlauf kann im Voraus festgelegt sein.

  4. Ich halte es für ein interessantes Problem, ob dieser Anschein immer noch ein befriedigendes Erlebnis sein kann. Bei einer vielschichtigen, in der Imagination stattfindenden Spielform wie dem Rollenspiel, wo wesentliche Entscheidungen im Verborgenen fallen und Regelbrüche zu gleichen Ergebnissen wie regelhafte Entscheidungen führen können, scheint mir die Wahrnehmbarkeit eines Regelbruchs ein Kriterium für dessen spielerseitige Auswirkungen zu sein. Mit dieser These habe ich mich im ARS-dominierten Forum ORK mal hervorgewagt, wo sie allerdings auf wenig Gegenliebe stieß.

  5. zitiert aus: "Interaktive Dramaturgie" von Imke Hoppe, http://www.tu-ilmenau.de/fakmn/uploads/media/InteraktiveDramaturgie01.pdf

  6. zitiert aus: "Dramaturgie in Computerspielen" von Michael Eckel, http://www.michael-eckel.de/projekte/download/studium/seminar_computerspiele.pdf