Ade, Rollenspieltheorie! Ein Streifzug
Unzureichend begründet, umrissen und formalisiert: in diesem Stadium sehe ich die aktuelle Rollenspieltheorie. Brechen wir auf zu einer Rundreise und schauen, wie es um die Theorie anderer Spiele, Hobbies und Phänomene bestellt ist.
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.
-Mephistopheles, Faust I
Drei Punkte
Die ...theorie hat sich noch nicht als eine wissenschaftliche Disziplin etabliert. Sie wurde bisher nur von wenigen Wissenschaftlern an wenigen Universitäten betrieben. Mit dem Wort ist noch keine klare Bedeutung verbunden. Es wird zwar hie und da, und [...] in der letzten Zeit immer häufiger verwendet. Es ist jedoch nicht allgemein bekannt, wer darunter was versteht und was vernünftigerweise darunter verstanden werden sollte. Diverse Bestrebungen, Anschauungen und Gedankengebäude, teilweise sogar Esoterisches, Absurdes und nachweisbar Unsinniges, werden mit diesem Namen versehen.1
Dieses Zitat stammt von Prof. Dr. med. Kazem Sadegh-Zadeh, und es geht nicht um Rollenspiel. Sadegh-Zadeh war von 1982 bis 2004 Professor für "Theorie der Medizin" an der Universität Münster, und die ersten drei Auslassungspunkte im Text stehen für "Medizin".
Nichtsdestoweniger beschreibt er sehr treffend den Zustand der "Theorie" eines Fachgebietes, die nur unzureichend begründet, umrissen und formalisiert ist. In diesem Stadium sehe ich die aktuelle Rollenspieltheorie; doch lassen wir das mit dem Rollenspiel mal für eine Weile. Brechen wir gemeinsam auf zu einer Rundreise und schauen, wie es um die Theorie anderer Spiele, Hobbies und Phänomene bestellt ist.
Der Ball ist rund
Nehmen wir durchaus mal ein Spiel, bei dem jeder Experte sein kann, bei dem es allein auf die Praxis ankommt und Theorie nur was für Spinner ist, die Angst vor frischer Luft haben! Da sind wir, von der frischen Luft abgesehen, vom Rollenspiel gar nicht so weit entfernt. Und das Spiel heißt: Fußball! Gibt es "Fußballtheorie"?
Radio Bremen berichtete im Juni 2011 unter der Überschrift "Crashkurs zur WM - Fußballtheorie für Frauen" von einem "Fußballseminar für weibliche Fußball-Laien". Dort wurden Fachbegriffe ("Doppelsechs, indirekter Freistoß, Schwalbe - und natürlich Abseits") erklärt, dazu Mannschaftsaufstellung und Taktik. Ist das Fußballtheorie? Und, darf man weiter fragen, ist deren Kenntnis so verbreitet, dass es lediglich eines Seminars für einen von den Intiatoren offenbar ausgemachte Randgruppe bedarf?
Oder ist es doch eher "Teoría del Fútbol" von Ricardo Olivós Arroyo, Erstausgabe 1977? Daniel Levy, der eine mehrsprachige Website zum Buch betreut, fragt rhetorisch:
Warum soll das Fussballspiel mit Theorien und Forschungen verkompliziert werden? Müssen die Spieler bald Laborkittel tragen? [...] Wird ihm [dem Fußballspiel] nicht durch Untersuchungen und Statistiken sein Zauber weggenommen?2
Und antwortet gleich darunter:
Während diesen kultivierten Zeitspannen wurden ausgeglichene und wohlgeordnete Spiele genossen. Allerdings wurden beide Systeme unbewusst eingesetzt. Sie waren, wie jedes nicht wissenschaftlich untersuchte Kulturereignis, ein Halbwissen. Seit den Anfängen der modernen Epoche [...] wird noch einmal aufs Geratewohl gespielt. Um die strategischen Gesetze des Fussballs zu beherrschen, muss man sie erforschen.
[...]
Ricardo Olivós Arroyo sah den Ball vom Baum fallen, wie Isaac Newton den Apfel. Das Deckungsspiel ist logisch und exakt wie die Schwerkraftsgleichungen. Je mehr die Fussballtheorie durch Bücher und Projekte untersucht wird, desto besser wird sie verstanden sein. Je besser verstanden, desto herrlicher zum Ansehen und befriedigender zum Spielen wird Fussball sein.3
Voller Pathos, zugegeben, aber wenn es darum geht, die Notwendigkeit theoretischer Überlegungen für ein Spiel zu begründen, das nach Ansicht vieler keine kleinkarierte Analytik, und schon gar keine wissenschaftliche, braucht, kann das nicht schaden.
Wem das zu staubig (oder zu spanisch) ist, kann einen Blick auf "Die Fußball-Matrix - Auf der Suche nach dem perfekten Spiel" von Christoph Biermann werfen. "Fußball im dritten Jahrtausend. Wo Meinung war, wird Wissen sein." wirbt der Verlag mit einer gewissen Dreistigkeit, die geschicktes Marketing verrät; der Satz schließt sich bei genauerer Betrachtung allerdings nahtlos der eingangs zitierten Analyse von Sadegh-Zadeh an. Ein Auszug des Buches steht unter der Überschrift "Fußballtheorie - Minimalisten auf elf Metern" auf Spiegel ONLINE. Nun gut: offenbar gibt es Fußballtheorie, auch wenn man als einer ihrer Autoren "in diesem leicht bizarren Kulturkampf gekonnt die Äquidistanz zu den Traditionalisten, wie auch zu den Apologeten der Fußball-Wissenschaft"4 halten muss.
Schachmatt
Verlassen wir die Kicker und kehren für einen Moment zurück an den Spieltisch. Nehmen wir ein Spielbrett, Figuren, und wieder sind wir nicht so weit weg vom Rollenspiel. Dass es "Schachtheorie" gibt, erscheint weniger verwunderlich als "Fußballtheorie". Aber warum? Nun, das Wesen des Spieles bringt mit sich, dass die Spieler eh die ganze Zeit mit Analyse und Nachdenken beschäftigt sind. Es erscheint hier kaum sinnvoll, von "Schachtheorie" und "Schachpraxis" zu sprechen - zu verwoben sind Überlegung und tatsächlicher Zug, zu minimal die eigentliche Spielhandlung, und mehr noch, ohne ein vernünftiges theoretisches Gebäude im Kopf ist das Spiel gegen einen fähigen Gegner kaum zu gewinnen.
Hinzu kommt natürlich, dass Schach ein mechanisch-deterministisches Spiel ist, mit einer endlichen Anzahl diskreter Züge und Spielzustände pro Spiel, die keine Ambivalenz kennen und sich hervorragend analysieren lassen (wobei es trotzdem sehr schwer ist, aufgrund der Analyse Vorhersagen und vor allem Handlungsanweisungen abzuleiten).
Reiner Seidel, der die "Reihe Wissenschaftliche Schachtheorie" herausgibt, schreibt:
Aber die traditionelle Schachtheorie, die ja ein Ausdruck des menschlichen Schachdenkens sein sollte, bleibt hinter den Fähigkeiten des Schachmeisters weit zurück. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens ist das Schachverständnis des Meisters teilweise unbewusst (unformuliert, "inituitiv"). Zweitens sind die Schachtheoretiker zu sehr in der Praxis befangen und haben es nie geschafft, ihren Kopf in die freie Luft des theoretischen Denkens zu erheben. Eine wissenschaftliche Schachtheorie (wST) erfordert dagegen große begriffliche Anstrengungen, deren Bezug auf das praktische Spiel nicht unmittelbar sichtbar ist [...]5
Wo "Schachtheorie" draufsteht, steckt aber noch längst kein einheitlicher Standard drin. Neben halbseitigen Abrissen über Eröffnungen stehen unter dieser Überschrift komplexe Werke wie Isaak Lipnitskys "Fragen der modernen Schachtheorie" (Rezension).
An diesem Punkt halten wir kurz inne und überlegen mal, warum es eigentlich bei Schachspielern im Vergleich zum Fußball keinen Sturm der Entrüstung gibt, keine "Traditionalisten", wenn jemand mit "Schachtheorie" um die Ecke kommt. Zum Teil haben wir das oben bereits beantwortet: Schach ist ohne zumindest einen Ansatz von Theorie praktisch kaum spielbar. Zum klassischen Bolzen dagegen brauche ich zwei gesunde Beine und eine Handvoll Mitspieler. Keine Theorie. Um meinen Fußballverein zum beherrschenden Thema meines Lebens zu machen, brauche ich Bier und eine Fahne. Keine Theorie.
Wo verorten wir die Rollenspieler? Sie sind sicherlich nicht die klassischen Jocks. Trotz dem die empirische Datenlage dünn ist, geht das Klischee in Richtung "männlich", "blass", oft "bebrillt", "Abiturient" oder "Student". Menschen, die man spontan eher einem intellektuellen Hobby wie eben Schach zuordnen würde. Und doch feiert das Dreinschlagen auf Rollenspieltheorie - im Gegensatz zu den Schachspielern - wieder und wieder fröhliche Urständ. Also, Rollenspieler: Prolls im Nerdkostüm? Ich lass das mal offen stehen.
Master of Puppets
Genug der gewinnorientierten Spiele! Bei Rollenspielen geht es nicht um Sieg, sondern ums Erzählen! Zumindest manchen. Suchen wir also mal zu einem Thema, das Wert auf Geschichten legt und gleichzeitig immer noch Nische ist. Wie steht es denn um die "Puppenspieltheorie"?
Tatsächlich gibt es den Verein "Union Internationale de la Marionnette, Zentrum Bundesrepublik Deutschland e.V.", der laut Satzung Kontakte vermitteln will, die unter anderem "zur Entwicklung und Vertiefung der Puppenspieltheorie und -praxis beitragen sollen"6. Mitglied werden können unter anderem Fachleute, "die sich mit der Geschichte oder Theorie des Puppentheaters befassen"7. Laut der Union muss es also sowas wie "Puppenspieltheorie" geben; die Publikationsliste des Vereins listet allerdings nichts zum Thema auf, und eine aktuelle Suche im Verzeichnis der lieferbaren deutschen Bücher führt zu Titeln wie "Theorie des therapeutischen Puppenspiels" oder "Figurentheater in der Grundschule: Handbuch für Theorie und Praxis", aber zu keinem eigentlichen, profunden deutschsprachigen Werk.
Immerhin: die Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin hatte zum Wintersemester 2006/07 eine "Professur für Puppenspielkunst" ausgeschrieben, mit "18 Stunden Lehre im Hauptfach und in Puppenspieltheorie"8, wobei insbesondere Erfahrungen auf dem Gebiet der "Theoretisch-analytischen Arbeit"9 erwartet wurden. Dem Vernehmen nach ist diese Stelle aktuell mit Prof. Markus Joss besetzt. Eine Publikationsliste sucht man allerdings vergebens, auch im Buchhandel wird man unter seinem Namen nicht fündig. Gut, eine rege Publikationstätigkeit mag kein Markenzeichen einer künstlerischen Professur sein; aber schade um die Puppenspieltheorie ist es allemal.
By Design
Wenn wir einmal beim Künstlerischen sind, schauen wir noch kurz auf die "Designtheorie". Hier gibt es immerhin Literatur bei anerkannten wissenschaftlichen Verlagen, etwa "Designtheorie und Designforschung" von Brandes, Erlhoff, Schemmann bei UTB. Allerdings schreibt Prof. Dr. Michael Erlhoff von der "Köln International School of Design":
Behaupten wir aus guten Gründen einfach, dass es eine in sich geschlossene Design-Geschichte und ebenso eine in sich ruhende Design-Theorie nicht gibt: Dann folgt daraus, dass es in diesem Arbeitsbereich allemal darum geht, unter der komplexen Perspektive von Design die Geschichte von Gestaltung mitsamt der von Wirtschaft, Kulturen, Wissenschaften, Techniken, Darstellungen, Architektur, Poesie, Kunst etc. als ein widersprüchliches Ineinander zu erörtern und zu erläutern – und die Design-Theorie eben im Kontext des Gesamt theoretischer Reflexionen.
[...]
Also könnte man hier [im Lehrgebiet Designtheorie] argumentative Kritik, klugen Diskurs, aufregende Wahrnehmung, Auseinandersetzung mit Theorie, historische Kontexte oder auch intelligentes Schreiben und ohnehin assoziatives Denken studieren.10
... and back again
Wir wollen unseren Streifzug hier beenden, andere Theorien wie Musiktheorie oder Angeltheorie ein andermal bestaunen und stattdessen sortieren, was wir unterwegs gefunden haben und für "Rollenspieltheorie" anwenden können. Jetzt wirds ernst!
Mit Professor Sadegh-Zadeh können wir sagen, dass es auch Rollenspieltheorie nicht als wissenschaftliche Disziplin gibt. Folgerichtig versteht jeder, der das Wort verwendet, darunter, was er (oder sie) will, etwa:
Rollenspieltheorie ist ein Überbegriff für jede reflektierte und geordnete Auseinandersetzung mit Rollenspielen.11
Die meisten haben sich allerdings noch nicht mal die Mühe gemacht, überhaupt irgendeine Definition abzugeben. Sondern etwas viel Schlimmeres. Dazu etwas Hintergrund: Etwa zwischen 1999 und 2004 gab es in den USA eine rege Szene von Rollenspielern, die sich Gedanken theoretischer Natur machten. Sie trafen sich online auf "the forge", einer Website, die auch namensgebend für die dort ausgebrüteten Theorien wurde.
Die Autoren der "Forge" produzierten eine Menge Text und noch mehr Ad-hoc-Fachbegriffe. Bei den im Usenet und im World Wide Web aktiven Rollenspielern schlugen diese Texte ziemlich ein und führten vor allem im deutschsprachigen Raum zu einem Denkfehler, der bis heute wie ein Krebsgeschwür im Geiste theoretisch interessierter Rollenspieler wuchert: Rollenspieltheorie ist gleich "Forge". Dieses traurige Phänomen kann man mehr oder weniger ausgeprägt quer durch den Gemüsegarten beobachten, so im GroFaFo (2005), bei Dom (2006), in Vinsalts DSA-Foren (2006), auf rpg-info.de (2007), bei PiHalbe (2010) und so weiter bis in unsere Tage hinein. Es wurde (und wird) nicht reflektiert, nicht mehr selber gedacht, nicht mehr definiert, nein, der US-Import wurde (und wird) mit einer Schleife verziert allen als "das ist Rollenspieltheorie" präsentiert.12
Damit muss endlich Schluss sein.
Behaupten wir analog zu Professor Erlhoff, dass es eine in sich ruhende Rollenspieltheorie einfach nicht gibt. Auch wir haben gute Gründe dafür - jede Menge davon. Damit erschließt sich dann auch hier ein Thema, anhand dessen sich, Erlhoff folgend, "argumentative Kritik, kluger Diskurs, aufregende Wahrnehmung, Auseinandersetzung mit Theorie, historische Kontexte oder auch intelligentes Schreiben und ohnehin assoziatives Denken"13 studieren lassen.
Tabula Rasa
Und das ist jetzt Rollenspieltheorie? Nein, natürlich nicht. Das Produkt dieses Prozesses vielleicht. Wenn jeder jedes Thema und jeden Diskurs nach Lust und Laune mit "Rollenspieltheorie" beschriftet - und das, siehe oben, durchaus mit einem gewissen Recht, womit freilich noch nichts zum Sinn gesagt ist - dann wird es allerhöchste Zeit für Rollenspielforschung. Nennt doch "Theorie", was ihr wollt! Der Begriff ist schwammig; aber ein Schwamm ist schön weich und bei verschiedenen Gelegenheiten durchaus auch nützlich. Mit "Theorie" kann jeder kommen, im besten Sinne ist sie eine Allmende, auf der die Gedanken weiden und sich miteinander kabbeln können. Doch wenn wir beginnen Forschung zu betreiben, wenn wir eine Wissenschaft des Rollenspiels erarbeiten, ist Schluss mit Beliebigkeit. Es ist Schluss mit auf Treibsand gebauten Konstruktionen, es ist Schluss mit der Ignoranz anderer Disziplinen, der Literatur, der Methodik, Schluss mit hohlen Ad-hoc-Begrifflichkeiten nach Tagesform, mit dem Primat der unmittelbaren Praktikabilität, mit dem Rückzug in Webforen und hinter Pseudonyme. Ade also, Rollenspieltheorie! Wir werden uns wiedersehen. Ganz im Sinne von Kassiopeia, die Ende in "Momo" sagen lässt:
Ich geh' dich suchen.
Florian Berger, im September 2011
Eine Kopie dieses Textes steht im Tanelorn-Forum.
ebenda ↩
11 Freunde, zitiert auf http://www.kiwi-verlag.de/das-programm/einzeltitel/?isbn=978-3-462-04144-6#rezension ↩
ebenda ↩
http://puppenspiel-portal.eu/titel/ausschreibung-professur/ ↩
ebenda ↩
http://georgiosp.blogspot.com/2009/09/rollenspieltheorie.html ↩
Damit mag ich vielen Unrecht tun, die sich über Jahre an der "Forge" gerieben und abgearbeitet haben, aber bitte, zeigt mir einen deutschen Autor, der in dieser Zeit die "Forge"-Modelle zusammenhängend kritisch hinterfragt und ihnen einen eigenes Modell entgegengesetzt hat. ↩