florian berger

Vom Ende der Vielstimmigkeit

Die AG Delegiertenmandat will Delegierten der bundesweiten Zusammeschlüsse der Partei DIE LINKE das Parteitags-Stimmrecht entziehen. Löst sie ein Problem durch Schaffung eines neuen?


Vielstimmigkeit in der LINKEN — bald vorbei? (Bild von Laura Morales)

AG, AG, wir machen ne AG

Die AG Delegiertenmandat ist eine Ende 2016 zuerst in Sachsen gegründete und anerkannte LAG, die sich im Mai 2018 als BAG konstituieren will.

Was will die AG?

Die AG Delegiertenmandat setzt sich für die Abschaffung der Parteitagsdelegierten mit beschließender Stimme der bundesweiten Zusammenschlüsse ein. Dazu strebt die AG Delegiertenmandat selbst nach möglichst vielen Delegiertenmandaten, um mit diesen diese Delegiertenmandate abzuschaffen. (Quelle: Webseite)

Und warum?

Nun, der Bundesparteitag von DIE LINKE besteht derzeit aus 580 Delegierten. Davon 500 aus den Landesverbänden, 30 aus dem Jugendverband sowie 50 Delegierte aus den bundesweiten Zusammenschlüssen. Das ist zuviel und verletzt vor allem das Prinzip: One member, one vote (ein Mitglied, eine Stimme). (Quelle: Webseite)

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die LINKE nicht nur — wie andere Parteien auch — bundesweite Arbeitsgemeinschaften kennt, sondern diesen eben auch mit § 16 der Bundessatzung ein beschließendes Stimmrecht auf dem Bundesparteitag zugesteht.

Die Historie dahinter ist gewunden. Aktuell gibt es in der LINKEN 24 bundesweite Zusammenschlüsse, von "Agrarpolitik" über "Grundeinkommen" bis zur "Ständigen Kulturpolitischen Konferenz". Hier die aktuelle Liste.

Make it count

Für Menschen, die interessiert sind, einer Partei beizutreten, sind Delegiertenmandate attraktiv.

Das quer durch die Parteienbänke dominierende Delegierten-Prinzip macht wie alle Mehrheitswahlsysteme neuen oder Minderheits-Ansichten die Mitbestimmung schwer. Das ist an sich erstmal nicht sofort problematisch.

Dass die eigene Stimme maximales Gehör erhält, kann für sich engagieren wollende Menschen aber ein wichtiger Eintrittsgrund sein. Findet die eigene Meinung in der lokalen Gliederung keine Mehrheit, dann kann sie regelmäßig auch nicht auf delegierten Flügeln bis in die höchsten Gremien segeln, sondern bruchlandet noch vor dem Abheben. Die Delegiertenmandate der LINKEN versprechen in diesem Fall einen parteipolitischen Telefon-Joker: vertreten dich deine Kreisdelegierten nicht, so kann dich immer noch ein bundesweiter Zusammenschluss vertreten. Und zwar mit vollen Stimmrecht, und bei entsprechender Stärke sogar mit mehr Mandaten, als mancher lokaler Verband aufbieten kann. Wer politisch was in Bewegung setzen will, wird natürlich nach dem größten Hebel greifen. Die Delegiertenmandate der LINKEN sind ein nicht zu unterschätzender Hebel.

Mi mi mi mi mi mi mi

Der AG Delegiertenmandat gefällt das nicht. Und zwar aufgrund eines möglichen vielfachen Stimmgewichtes: ist man etwa Mitglied in einem Kreis-, in einem (oder mehreren) bundesweiten und im Jugend-Verband, und gewinnt die eigene Position dort jeweils eine Mehrheit, so dass sie sich in Delegationen niederschlägt, dann zählt die eigene einzelne Mitgliederstimme gleich mehrfach auf dem Parteitag. (Streng genommen zählt sie schon bei den jeweiligen Delegierten-Wahlen mehrfach, selbst wenn sie nicht durchkommt.)


Auch drei Stimmen sind der AG Delegiertenmandat mindestens zwei zu viel. (Bild von Laurel L. Russwurm)

Diese Betrachtung geht allerdings von einem möglichen Gleichklang von Kreis-, Zusammenschluss- und Jugendverbands-Meinungen aus, die zumindest auf den ersten Blick bei einer aus unterschiedlichsten Strömungen verwirbelten sozialistischen Sammlungspartei nicht unbedingt plausibel erscheint. Wir sprechen bei den Delegiertenmandaten von nicht mal 9% der Delegierten, die sich nach einem Mitgliederschlüssel nochmal auf zwei Dutzend bundesweite Zusammenschlüsse aufteilen, sofern diese über mindestens 250 Mitglieder verfügen. 2013 erhielten 6 Zusammenschlüsse mehr als 2 Mandate (insgesamt 28 oder 4,8% der Delegierten), 14 Zusammenschlüsse erhielten 1 oder 2 Delegiertenmandate (insgesamt 22 oder 3,8% der Delegierten, Quelle: Delegiertenschlüssel des 4. Parteitages). Klar können diese Stimmen entscheidend sein. Aber stört das? Oder anders gefragt: Wie ist denn eine Strömungspartei passend abzubilden?

The Sound of Silence

Welche Alternative hat die AG Delegiertenmandat denn vorzuschlagen?
Etwas sehr einfaches: Dass es keine Delegierten mit beschließender Stimme der Zusammenschlüsse mehr gibt. (Quelle: Webseite)

Also einen ungefederten Rückfall aufs Kreisverbands-Delegierten-Prinzip.

Wie oben geschildert ist dieses Prinzip durchaus problematisch — zumindest wenn man gesteigerten Wert auf Pluralismus und Minderheitengehör legt. Das ergibt sich daraus, dass das Delegiertenprinzip die Nachteile des Mehrheitswahl- und des Repräsentationsprinzipes kombiniert.

Das Prinzip der Mehrheitswahl ist, dass sie die Minderheiten überstimmt. Das kann zum bekannt kuriosen Ergebnis führen, dass 51% den anderen 49% ihren Willen aufdrücken können.

Das Prinzip der Repräsentation ist, dass ein Mensch viele vertreten soll. Das ist eine praxistaugliche, aber oft unglückliche Vereinfachung von komplexen Meinungsbildern.

In der Kombination der beiden entsteht eine "winner takes it all"-Situation: ein Mensch vertritt alle an ihrer Wahl beteiligten, egal ob sie von ihnen tatsächlich gewählt wurde oder nicht. Ein bekanntes Problem der Erststimme bei der Bundestagswahl.

Für die LINKE heißt das: dünne Mehrheiten der lokalen Gliederungen können bestimmen, wer delegiert wird. In seiner strengsten Form schaltet das andere Meinungen im Kreisverband stumm, selbst wenn sie zweistelligprozentig vertreten sind. Ohne Delegiertenmandate bleibt im Minderheitenfall nur die Hoffnung, dass andere Verbände für einen selbst günstiger delegieren und die eigene Ansicht wenigstens auf diese Weise ihren Weg zum Parteitag findet. Für den eigenen Kreisverband bleibt in dem Fall nur Frust.

Und das ist jetzt die bessere Lösung?


Von der AG Delegiertenmandat favorisiert: Monophonie. (Bild von Emil Eikner für CabarEng)

Pluralismus FTW

Bei all dem Witz (und Swag), den die AG in ihre Kampagne investiert, ist es höchstmaßlich zu bedauern, dass Ideen für Verbesserungen — statt Kahlschlag — auf der Strecke bleiben. Es ist ja nun nicht so, dass pluralistische Ansprüche per se nicht zu realisieren seien.

Ein paar Ideen, wo man mal buddeln könnte:

Anarchist*innen schätzen etwa das Konsensprinzip, lesenswert bedacht in "Mehrheitsdiktatur und Konsensprinzip". Die Idee: beschlossen ists, wenn keine*r mehr widerspricht. Das stärkt die Widerspruchsposition unverhältnismäßig, verschafft ihr aber gleichzeitig enormes Gehör. Plötzlich sind nicht mehr wenige Halbentschlossene auf die Mehrheitslinie zu ziehen, sondern entschieden Widersprechenden ein Angebot zu machen. Das hat Potenzial, die Dynamik von Meinungsbildungen grundlegend zu ändern. Auf die Nachteile und Schwächen des Prinzips geht der verlinkte Artikel ein. Konsensuales Delegieren verspräche aber mindestens eine spannende Übung zu sein.

Die Ema.Li schlug 2012 vor, das Delegiertenprinzip auf Kreisebene ganz abzuschaffen. Also: mehr Basisdemokratie, weniger Repräsentation. Für den Bundesparteitag einer Partei mit knapp 62.000 Mitgliedern sicher weniger geeignet, für Landes-Ebenen denkbar. Attraktiv erscheint das Mitgliederprinzip für richtungsweisende Entscheidungen, wie bereits zur Doppelspitze (2010) oder dem Erfurter Programm (2011). Leitanträge, oder Richtungsanträge wie die 2018 in Leipzig anstehenden A.2 zur Programmkommission (Antragsheft 1), P.9. zur Haltung zum Grundeinkommen oder P.10. zur Beitragstabelle (Antragsheft 2) einem Gesamtmitglieder-Entscheid vorlegen — warum nicht?

Und, wenn es bei eingeübten Verfahren bleiben soll, könnte man sich immerhin noch was beim minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrecht (Wikipedia) abgucken. Dessen Idee: der Mehrheit knapp über 50% zugestehen, die andere Fast-Hälfte der Stimmen nach Verhältnissen aufteilen. Das Prinzip führt zu einer Aufwertung von Minderheiten-Positionen, ohne eine erreichte Mehrheit zu beschädigen. Da könnte man interessante Modi sowohl für Delegierten-Wahlen als auch Parteitags-Entscheidungen ableiten.

Erst die Arbeit, dann der Kirschlikör

Die Abschaffung der Delegiertenmandate ist keine schlechte Idee. Die bundesweiten Zusammenschlüsse behielten ihr Antragsrecht für Bundesparteitage, so dass die dann allein stimmberechtigten, per repräsentativer Mehrheitsentscheidung entsandten Delegierten sich mit deren Vorstellungen zumindest auseinandersetzen müssten. Die LINKE würde dadurch einfach ein bisschen grüner. Es bleibt die offene Frage, ob dies der vielgestaltigen linken Meinungslandschaft gerecht wird.

Schon statistisch ist anzunehmen, dass sich in der AG Delegiertenmandat einige clevere Menschen zusammengefunden haben. Dass denen bislang offenbar nicht mehr als ein "Dagegen!" eingefallen ist: bedauerlich. Jedem Dutzend neu eingetretene Mitglieder einen klugen Gedanken abzuverlangen zu einer pluralistischen, minderheitenfreundlichen Reform von Parteitags-Procedere, wär da doch mal ne Maßnahme — zumal sich der Widerstand gegen die AG bereits in Stellung bringt.

Wem das zu viel ist, der kann das Alternativen ausbrüten ja delegieren. :)

Diskutieren können wir das auf Twitter.

Weiterlesen:
»Rabatte statt rabotten« — Die AG Delegiertenmandat, der »Swag« und die innerlinke Demokratie (nd, 09.06.2017)