florian berger

Mein Begriff von Rollenspieltheorie

Die Aufgabe der Rollenspieltheorie sehe ich darin, das Phänomen "Rollenspiel" erschöpfend wissenschaftlich zu beschreiben. Ein kurzes Satz für ein gewaltiges Vorhaben!

Dieser Text erschien bereits im August 2009 im Web-Forum "Tanelorn". Aus gegebenem Anlass spiegele ich ihn nochmal hier.

Im Supportthreoad über die Schließung des Rollenspiel-Theorie-Boards im Tanelorn wurden ein paar Schlagworte zur Rollenspieltheorie (ChristophDolge, Juhanito) geäußert, die für mich nur am Rand mit dem Begriff zu tun haben. Da ich mehrfach gefragt wurde, was denn nun für mich darunter falle, hier mal ein paar Gedanken dazu.

Ich schicke vorsorglich voraus, dass ich dem folgenden Text nicht die Zeit und Sorgfalt widmen kann, die ihm eigentlich gebührt, aber in dem Fall würde er wohl auch nächsten Monat noch nicht drinstehen. ;) Nehmt es also bitte erstmal als Gedankenfragmente ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Zuerst einmal ist aus meiner Sicht der Begriff "Rollenspieltheorie" von sogenannten "Best Practices" zu unterscheiden. Da gelegentlich der Ruf erschallt, Rollenspiel sei "nur ein Hobby" und der ganze Theoriekram daher unnötig, nehme ich zum Vergleich mal ein anderes Hobby zur Hand: Angeln. :)

  • Welche Rute und welche Gewichte man nimmt, welcher Platz an einem gegebenen See der beste ist, welche Rolle gut läuft und welcher Hocker am bequemsten ist, ob man seitlich oder über Kopf auswirft sind Best Practices, bewährte Methoden. Dabei geht es eher um das "Wie machen".
  • Was ein Fisch ist und wovon er abstammt, wie seine Wahrnehmung funktioniert, wie er sich verhält (Köder), ob er ein knöchernes oder nur knorpeliges Skelett hat und wie er es schafft, bewegungslos im Wasser zu schweben sind wissenschaftliche Fragestellungen, es geht eher um das "Wie ist es und warum ist es so". Der Angler kann einige der Antworten auf diese Fragen gebrauchen, andere interessieren ihn wiederum nicht.

Natürlich gibt es eine Grauzone dazwischen, aber ich hoffe, es wird klar, was ich meine.

Übertragen auf Rollenspiel gehören für mich Fragestellungen nach der Auswahl von Zufallstabellen, Anzahl und Art der Würfel beim Systemdesign, Transformation von Regelwerken auf Settings, Musik ja/nein und sogar forgige Sachen wie "Kicker" zu Best Practices, haben aber nichts oder nur wenig mit "Rollenspieltheorie" nach meiner Lesart zu tun (obwohl das selbstverständlich durchaus theoretische Fragestellungen sind).

Die Aufgabe der Rollenspieltheorie sehe ich darin, das Phänomen "Rollenspiel" erschöpfend wissenschaftlich zu beschreiben. Ein kurzes Satz für ein gewaltiges Vorhaben!

Das Problem beginnt bereits bei der Einordnung in ein Fachgebiet. Rollenspiel als menschliches Spiel muss zuerst zwingend in eine Theorie des menschlichen Spielens eingebettet werden. Hier können aber nun Sprachwissenschaften (Linguistik, Semiotik), Sozialwissenschaften (Kultur-, Medien-, Kommunikationswissenschaft, Soziologie), Psychologie sowie in bestimmtem Maße die Strukturwissenschaften (Mathematik, Informatik) alle gute Argumente vorbringen, warum dessen Erforschung jeweils in ihren Zuständigkeitsbereich fällt.

Diese Problem stellt sich aktuell. Die digitale Spieleindustrie ist umsatzstärker als die Filmindustrie. So ein Phänomen kann die Wissenschaft schwerlich ignorieren. Dazu ist seit langem Konsens, dass Spielen zum Wesen des Menschen gehört. Es wird also Zeit; nicht nur für vernünftige, belastbare und gründliche Rollenspieltheorie, sondern für eine Theorie des Spieles überhaupt. Der gangbarste Weg scheint ein interdisziplinärer Ansatz. Einen brauchbaren Überblick gibt die englische Wikipedia unter dem Stichwort Game studies.

Rollenspieltheorie muss sich also erstmal auf ein Fundament stützen, das beschreibt, was ein Spiel ist, wie es grundsätzlich funktioniert, welche Funktionen es erfüllt, welche Prozesse dabei stattfinden. Dieses Fundament existiert zur Zeit nicht. :-P

Erst dann kann Rollenspieltheorie überhaupt erst sinnvoll versuchen, sich zu positionieren. Sie greift auf die allgemeine Theorie des Spiels zurück und beschreibt unter anderem, warum Rollenspiel ein Spiel ist, wie es bezogen auf einen grundsätzlichen Spielbegriff funktioniert, welche Funktionen Rollenspiele im Vergleich für das Individuum, die Gruppe, die Gesellschaft haben, welche dem Spiel zugehörigen Prozesse beim Rollenspiel wie ausgeprägt sind etc.

Man kann hier leicht sehen, dass sich das hochwohlgeborene Forge-Theoriekonglomerat auch dort, wo es keine Best Practice ist, nur einem recht kleinen Teil der Rollenspieltheorie genähert hat. Es gibt hier einfach noch eine große Masse unerforschten Landes. Das letzte Wort ist hier keinesfalls gesprochen.

Was also ist Rollenspieltheorie für mich? Rollenspieltheorie muss unser Hobby als menschliches Spiel umfassend beschreiben. Dazu gehört ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Beschreibung von Rollenspiel als sprachliche Kommunikation
  • Beschreibung ablaufender semiotischer Prozesse
  • Beschreibung der kulturellen Voraussetzungen und der kulturellen Einbettung
  • Beschreibung der soziologischen Aspekte von Spielern und Spielgruppen (u.a. Mikrosoziologie, Rituale, ...)
  • Psychologische Analyse von Rollenspielen (die Verwandtschaft zum Psychodrama ist unübersehbar)
  • Beschreibung der durch Mathematik und Informatik fassbaren Teilbereiche (klassische Spieltheorie, Optimierungsprobleme)
  • Einordnung in eine kulturhistorische Betrachtung menschlichen Spiels

Ich fürchte nur, dass das in dieser umfassenden Form in den nächsten Jahren weder für Rollenspiel noch für die bei der Wissenschaft aktuell wesentlich populäreren digitalen Spiele geschehen wird. Zur Zeit preschen einzelne Forscher und Forschergruppen (der Autor dieser Zeilen eingeschlossen) einfach los, stecken ein Claim ab und fangen dort an zu arbeiten. ::) Ein einigermaßen vollständiges Theoriegebäude muss wohl über kurz oder lang aus den bewährteren der Einzelforschungen zusammengetragen werden.

Florian Berger, im August 2009